Türkeistämmige Migrantinnen in Duisburg: Auf dem Weg zur selbstbestimmten Rollendefinition

Vortrag der Integrationsbeauftragten der Stadt Duisburg, Leyla Özmal, während der
Tarabya-Konferenz der deutschen Botschaft vom 27. bis 29. Mai 2011 in Istanbul

Eine Freundin fragte mich vor einiger Zeit: Was ist eigentlich los mit den türkeistämmigen jungen Frauen in Duisburg? Sie opponieren nicht wie wir damals! Sie wollen sich keine Freiheiten nehmen. Sie studieren und träumen dabei von einer Zukunft als verheiratete Mütter. Sie verzichten auf Sex vor der Ehe. Und so viele wie nie zuvor tragen heute ein Kopftuch. Auf diese Idee wären wir und unsere Mütter nicht gekommen!

Die Frage meiner Freundin ist eine wichtige Frage. Sie wird in Duisburg, aber auch in deutschen Diskursen allgemein, zur Zeit häufig gestellt: Was ist los mit den türkeistämmigen Frauen? Und was mit den Männern? Sind sie genügend integriert? Wie steht es mit Gleichberechtigung, Freiheit zur persönlichen Lebensgestaltung, mit Einstellungen, die zur deutschen Gesellschaft passen, mit normgerechtem Verhalten? Vieles wird festgemacht an den Geschlechtsrollen der Menschen, und es wird die Frage gestellt: Haben sich die Geschlechtsrollen der türkeistämmigen Menschen seit dem Beginn der Arbeitsmigration in Richtung deutscher Werthaltungen weiterentwickelt? Oder lassen sich Rückschritte ausmachen, die heute möglicherweise dem Gelingen der Integration in Deutschland zuwider laufen? 

In meinem Vortrag will ich mich mit diesen Fragen in kritischer Weise befassen. Zunächst gehe ich ein auf die gängige Antwort der öffentlichen Diskussion in Deutschland, die wenig optimistisch ausfällt. Dem stelle ich in einem weiteren Schritt meine eigene Wahrnehmung in Duisburg gegenüber, welche gestützt wird durch Ergebnisse der Duisburger Integrationsbefragung aus dem Jahr 2009. Im Anschluss betrachte ich den Anfang und das vorläufige Ende der Entwicklung, die erste Generation und die heutige Generation der türkeistämmigen Migranten und Migrantinnen, im Hinblick auf ihre Geschlechterverhältnisse und deren Beurteilung, und schließe beide Teile mit einer zusammenfassenden These ab. Zum Schluss versuche ich, die Frage meiner Freundin mit einer dritten These zu beantworten. 

Das Bild von Migrantinnen in der Öffentlichkeit

Die öffentliche Diskussion in Deutschland geht tatsächlich von Rückschritten und von mangelnder Integration aus. Ülger Polat bemerkt dazu in einem Aufsatz zum Wandel von Geschlechterrollen von Muslimen in der Einwanderungsgesellschaft folgendes: „Maßgeblichen Anteil an … (dem negativen Bild der muslimischen Migranten und Migrantinnen) … haben unter anderem die Medien sowie einige pseudowissenschaftliche Publikationen, in denen von muslimischen Frauen häufig das Bild hilfloser, der Männerherrschaft ausgelieferter Opfer vermittelt wird. Muslimische Frauen würden kein selbstbestimmtes Leben führen, seien eingeschlossen in ihren Wohnungen und abgeschirmt von der deutschen Alltagswirklichkeit. Ein Großteil von ihnen sei zwangsverheiratet und friste ein Leben als moderne Sklavinnen. Männliche Dominanz und Gewalt würden ihr Leben in Deutschland bestimmen.“ (Polat, S.4) 

Das ist auch das Bild, das ich den Medien entnehme und gegen das türkeistämmige Migranten und Migrantinnen in Deutschland jeden Tag ankämpfen: Unterdrückte, rückständige Frauen und Mädchen und religiös verblendete gewalttätige Männer bildeten demnach die türkeistämmige community; sie seien wegen ihrer „Herkunfts“- Kultur außerstande, sich in die deutsche Gesellschaft angemessen zu integrieren und lebten parallel zur Mehrheitsgesellschaft nach eigenen Regeln. Dieses Bild der türkeistämmigen Migranten und Migrantinnen stimmt nicht mit meinen Bildern überein. Ich kenne zwar auch in Duisburg das Problem, dass junge Männer als Bildungsverlierer und ohne Aussicht auf eine sinnvolle Beschäftigung Konflikte in die Stadtgesellschaft tragen können – wenn sie nicht sozial aufgefangen werden. Und ich kenne auch das Problem, dass vereinzelt Frauen, die fremd aus der Türkei einheiraten, sich anfangs nicht gut zurechtfinden, sich nicht willkommen fühlen und auf die eigene Wohnung und den eigenen kleinen Familienkreis beschränkt bleiben.

Aber das ist nicht die alltägliche Lebenswelt der türkeistämmigen Bevölkerung in Duisburg. Mir begegnen die unterschiedlichsten Menschen, und insbesondere Frauen scheinen aktiv auf der Suche nach angemessenen Lebensformen zu sein. Ob an der Uni mit dem Wunsch nach Ehe und Kindern, ob in der Disco mit Minirock und Kopftuch, ob in einer traditionellen Ehe ohne Kopftuch – die türkeistämmigen Duisburgerinnen sind präsent, vielfältig, aktiv und selbstbestimmt. 

Duisburger Integrationsbefragung

Die von der Stadt Duisburg im Jahr 2009 vorgelegte Duisburger Integrationsbefragung lieferte viele aufschlussreiche Erkenntnisse über das Zusammenleben der Stadtbevölkerung. Eine zentrale Erkenntnis ist dabei, dass ein gutes Zusammenleben der Stadtbevölkerung jedenfalls nicht an Einstellungen und Werthaltungen der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte scheitert: Während die Zugewanderten Duisburg nach wie vor als die Stadt ihrer Wahl begreifen und bereit sind, sich in das Leben der Stadtgesellschaft einzubringen, werden sie von den deutschstämmigen Duisburgern und Duisburgerinnen in verschiedener Weise auf Distanz gehalten. Gerade türkeistämmige Menschen haben es in Duisburg schwer, anerkannt zu werden. Die Studie fasst diesen Sachverhalt wörtlich zusammen mit dem Begriff der „unerwiderten Liebe“. (Stadt Duisburg, S. 144)

Ablehnung und Ausgrenzung gehen seit Jahrzehnten einher mit Benachteiligungen im Bildungssystem, die erst langsam gemildert werden konnten und teilweise heute noch fortbestehen. Das Bildungsniveau der Zugewanderten ist im Schnitt niedriger, ein wesentlich höherer Anteil von ihnen als von den Deutschstämmigen arbeitet als un- und angelernte Kräfte. Immerhin ist erfreulich, dass das Bildungsniveau bei den Duisburger Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte mittlerweile gestiegen ist: In Kernbereichen ist bei ihnen heute weniger Ungleichheit zu finden.

Die vorhandene Benachteiligung betrifft aber in besonderer Weise Frauen, auch das hat unsere Integrationsbefragung festgestellt. Demnach sind Frauen mit Zuwanderungsgeschichte sowohl im Ausbildungssystem als auch im persönlichen Bereich benachteiligt. Sie besitzen einerseits am häufigsten keinen Schul- und Berufsabschluss, andererseits geben sie nahezu dreimal häufiger als deutschstämmige Frauen an, als Hausfrauen tätig zu sein. Wie steht es also um die Geschlechtsrollen der türkeistämmigen Frauen in Duisburg? Wie und wodurch haben sie sich in den letzten 50 Jahren gewandelt?

Die ersten Gastarbeiterinnen

Die erste Generation von Menschen, die vor 50 Jahren aus der Türkei nach Duisburg kamen, folgten ihrem Traum von einem besseren Leben in ein fremdes Land. Nach Duisburg kamen aufgrund der schweren Arbeit in der Montanindustrie vor allem Männer. Es kamen aber auch, und das gerät oft in Vergessenheit, viele Frauen, die ihre Familien in der Türkei unterstützten. Ihr Anteil an den nach Nordrhein-Westfalen einwandernden Menschen der ersten Generation betrug mehr als 20%. (MGEPA NRW/BMFSFJ, S.44) Eine davon war meine Mutter. Nachdem mein Vater die Familie jahrelang mit Wanderarbeit innerhalb der Türkei unterstützt hatte, wollte er wieder bei der Familie bleiben. Um die Familie zu finanzieren, ging deshalb nun meine Mutter auf Wanderschaft. Sie ließ meinen Vater, meine Schwestern und mich bei den Verwandten zurück und begann in Deutschland als Hotelbedienstete zu arbeiten.

Die meisten Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen kamen ursprünglich aus einer bäuerlichen Umgebung. Manche hatten diese zwar schon in der Türkei hinter sich gelassen und vor der Auswanderung eine Zeitlang in – teils ärmlichen – städtischen Vierteln gelebt. Trotzdem waren sie geprägt von den Strukturen einer bäuerlichen Gesellschaft. Für sie war es selbstverständlich, dass alle Erwachsenen mit ihrer Kraft und ihrer Arbeit zum Unterhalt der Familie beitrugen. Zwar waren die Männer dabei mehr nach außen orientiert, die Frauen trugen die Verantwortung für das häusliche Leben der Familie. Aber das führte nicht zur Festlegung der Frau auf Hausarbeit bei gleichzeitiger Abwertung dieses Arbeitsbereichs, wie in Industriegesellschaften üblich. Die relevanten Entscheidungen wurden zusammen getroffen, niemand „beherrschte“ die Familie mit seinem Willen. Frauen waren also im Alltag nicht „weniger berechtigt“ als Männer.

Diese Familienverhältnisse konnte ich später, in den Jahren nach dem Familiennachzug, in unserem ganzen Viertel in Duisburg beobachten. Die deutschstämmigen Familien waren damals nach dem traditionellen Geschlechtsrollenmodell organisiert– der Mann war erwerbstätig und verdiente in der Montanindustrie oftmals gut, die Frauen blieben zu Hause, versorgten die Familien als Hausfrauen und warteten mit dem Essen auf Mann und Kind, selten hatten sie zwei oder mehr Kinder. Demgegenüber waren in den türkeistämmigen Familien alle Erwachsenen nach ihren Möglichkeiten erwerbstätig und trugen damit zum Familienunterhalt bei, auch wenn die Frauen aufgrund ihrer respektierten und angesehenen Verantwortung für die Familie – meist mit mehreren Kindern – oft weniger Erwerbsarbeit verrichteten oder später – möglicherweise auch aufgrund von Benachteiligungen am Arbeitsmarkt – eher schwarz arbeiteten, z.B. als Putzfrauen. 

Erste Generation der Migrantinnen war gleichberechtigt

Mit diesem „gleich-berechtigten“ Bild der Geschlechterrollen der ersten Generation stehe ich nicht alleine da. In einer kleinen österreichischen Studie von Julia Edthofer und Judith Obermann aus dem Jahr 2007 (Edthofer, S. 461, 464ff., 468, 458) wird aus den Aussagen von Töchtern ersichtlich, dass ihre Mütter die Hauptverantwortung in der Familie tragen und die wesentlichen Entscheidungen treffen. Das korrespondiert mit einem größeren Verantwortungsgefühl der Mütter als der Väter für die Familie. Aus den Aussagen der Mütter selbst ergibt sich, dass sie wichtige Entscheidungen, wie beispielsweise die zur Emigration nach Österreich, als selbst und autonom gefasste Entscheidungen ansehen.

Diese Befunde werden durch andere Forschungsergebnisse bestätigt, die im Abschlussbericht einer Studie zum Rollenverständnis von Frauen und Männern mit Zuwanderungsgeschichte im Auftrag deutscher Ministerien aus dem Jahr 2010 (MGEPA NRW/BMFSFJ, S.43ff.) zusammengestellt sind, und belegen, dass die Frauen den Prozess der Migration entscheidend prägten, dabei sogar den Ton angaben und für Orientierung im neuen Leben sorgten. Demnach hatten sie eine eigene Machtstellung mit Entscheidungskompetenzen inne und waren darauf ausgerichtet, trotz der ihnen obliegenden höheren Verantwortung für die Familie durch eigene Erwerbstätigkeit die ökonomische Basis zu sichern. Aber auch die Frauen, die ihren Männern nach Deutschland nachfolgten, wiesen durchgehend eine höhere Erwerbstätigkeit auf als die deutschen Frauen, bis 1974 das Arbeitsverbot für zureisende Familienangehörige erlassen wurde. Erst danach sank die Erwerbsquote der türkeistämmigen Frauen zwangsweise ab. (MGEPA NRW/BMFSFJ, S.48)

Über die Männer der ersten Generation lesen wir in dem Bericht der Ministeriumsstudie zum Rollenverständnis (MGEPA NRW/BMFSFJ, S. 283f., 289), dass für sie der Migrationsprozess schmerzhafter war als für die Frauen. Sie fanden sich in der neuen Welt nicht so leicht zurecht, der Status des Gastarbeiters wurde zudem trotz der guten Verdienstmöglichkeiten meist als sozialer Abstieg empfunden. Mit dem obersten Ziel, den Kindern den sozialen Aufstieg durch eine gute Bildung und Ausbildung zu ermöglichen, wendeten viele Väter sich nach der Migration vermehrt auch dem Innenbereich der Familie zu – was in den Familien durchaus zu neuen Spannungen führen konnte.

Maßstäbe für die Bewertung von Rollenbildern

Den Pionierinnen der ersten Generation ist zur Zeit in Deutschland eine Wanderausstellung gewidmet. Sie zeigt mutige, starke und selbständige Frauen. Und sie trägt den Titel „Die vergessenen Frauen“! (Stadt Dinslaken) Die Pionierinnen, die Frauen der ersten Stunde, sind heute in Deutschland in Vergessenheit geraten. Im öffentlichen Diskurs herrscht die Meinung vor, damals wären Menschen immigriert, die in ihrem Geschlechtsrollenverständnis gegenüber heute rückständig und altertümlich gewesen wären. Wie konnte es dazu kommen?

Hier stellt sich zum einen die Frage nach den Maßstäben, an denen wir die Menschen messen, zum anderen die Frage nach dem Blick, mit dem wir sie betrachten.

Als Maßstab für Geschlechtsrollenmodelle haben wir in Deutschland heute im allgemeinen eine dreigeteilte Klassifizierung, deren Modelle wie Stationen einer Entwicklung von rückständig (und deshalb abzulehnen) nach fortschrittlich (und deshalb anzustreben) dargestellt werden. Maßstab ist hierfür ein Rollenverständnis, das „funktional für die Anforderungen einer Industriegesellschaft“ ist, wie es Ursula Boos-Nünning (Boos Nünning, S.10) ausdrückt, und das vor allem die Arbeitsteilung in einer Kleinfamilie, bestehend aus Mutter – Vater – und Kind/Kindern in den Blick nimmt.   

Die bereits erwähnte Ministeriumsstudie zum Rollenverständnis bietet zum Beispiel folgende Einteilung: „Traditionelles Modell“, bei dem die Frau für Haushalt und Kinder verantwortlich und dabei höchstens gering erwerbstätig ist, der Mann hingegen Hauptverdiener und Familienernährer ohne Pflichten im Haushalt; „Eingeschränkt gleichberechtigtes Modell“, bei dem beide Eheleute erwerbstätig sind und Hausarbeit erledigen, jedoch die Frau schwerpunktmäßig für die Hausarbeit, der Mann schwerpunktmäßig für den Erwerbsbereich verantwortlich ist; und Gleichberechtigtes Modell“, bei dem die Arbeiten ohne Ansehung des Geschlechts aufgeteilt werden.

Erwerbsarbeit und Gleichberechtigung

Alleine das sogenannte „gleichberechtigte Modell“ wird in Deutschland als „egalitär“ angesehen, weil einerseits Gestaltungsmacht in der Familie und gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe für beide Eheleute weitgehend von einer eigenen Teilnahme am Erwerbsarbeitsmarkt abhängen. Und weil andererseits gerade die Frau in der modernen Kleinfamilie für ihre eigene Teilnahme am Arbeitsmarkt davon abhängig ist, dass ihr Partner Familienarbeit übernimmt. Das Leben in einem „traditionellen“ Familienarrangement wird in Deutschland als am wenigsten „egalitär“ betrachtet, weil es mit Herrschaft des Mannes über die Familie und mit Abhängigkeit, mangelnder Berechtigung und Unterdrücktsein der Frau gleichgesetzt wird. Das theoretische Idealbild von „Gleichberechtigung“, an dem auch die Frauen mit Zuwanderungsgeschichte gemessen werden, sieht also so aus: Sie sind in Vollzeit berufstätig, und wenn sie Kinder haben, leben sie mit einem Mann als Familie zusammen, wobei beide Eltern genau gleichermaßen – am besten in Vollzeit - erwerbstätig sind und den dann noch verbleibenden Rest an Familienleben zu vollkommen gleichen Teilen verantworten, organisieren und bewältigen.

Es ist zu hinterfragen, ob diese Einteilung als Maßstab für die Geschlechtsrollen der ersten Generation angemessen ist. Wird nämlich die erste Generation in die Kategorie „traditionelles Modell“ eingeordnet, dann verkennen wir dabei, dass sie gar nicht aus einer Industriegesellschaft kamen. Sie waren geprägt von bäuerlichen Verhältnissen, von Großfamilien, von eigener ökonomischer Absicherung durch die gemeinschaftliche Bewirtschaftung von Ackerboden und von der Aufteilung des Lebensraums in weiblichen Innenraum und männlichen Außenraum – mit eigenem Ansehen und eigenen Regeln für jeden Bereich. Die Verantwortung für die Familie, insbesondere die Kinder, bedeutet in solchen Konstellationen eben nicht die machtlose Unterwerfung einer Frau unter einen Ehemann. Sie hat innerhalb der Regeln der Familie und des Dorfes eine gesellschaftliche Stellung aus eigenem Recht und ist ökonomisch nicht ausschließlich abhängig vom Ehemann. Die Frauen der ersten Generation hatten dementsprechend noch ein Selbstbewusstsein, das sich nicht von der Teilnahme an industriegesellschaftlicher Erwerbsarbeit herleitete. Sie kannten noch Räume eigener Entscheidungsmacht und waren an flexible und pragmatische Arbeitsteilungen gewöhnt. Daher sind die industriegesellschaftlichen Geschlechtsrollenbilder kein Maßstab für die Qualität von Machtbeziehungen in den Familien der ersten Generation. Dennoch werden sie in der Rückschau daran gemessen.

Folglich sollten die Rollenbilder der ersten Migrantinnen aufgrund ihrer hohen Erwerbsquote zumindest als „eingeschränkt gleichberechtigt“ klassifiziert werden. Das ist aber nicht der Fall, im Gegenteil, in der deutschen Öffentlichkeit wird türkeistämmigen Migrantinnen und Migranten gerade unterstellt, dass sie das „traditionelle“ Modell immer schon gepflegt und bis heute nicht aufgegeben hätten. Hier spielt nun der Blick eine Rolle, mit dem wir sie betrachten. Und auch hier stellt sich heraus, dass er ihnen nicht angemessen ist: Im Bericht der Ministeriumsstudie zum Rollenverständnis findet sich der Hinweis, dass schon von Anfang an die türkeistämmigen Frauen, obwohl häufiger erwerbstätig als deutsche Frauen, nur in ihrer Rolle als Hausfrau öffentlich wahrgenommen und erforscht wurden – eine Verkürzung der gesellschaftlichen Realität, durch die das Bild von Rückständigkeit und Unterdrückung erst konstruiert wird.

Meine erste These lautet also an dieser Stelle: Die Frauen der ersten Generation waren „gleichberechtigt“. Sie hatten in der Familie eigene weitreichende Entscheidungskompetenzen, sie bekamen Anerkennung für die Arbeit, die sie für die Familie verrichteten und sie hatten durch ihre Erwerbsorientierung auch einen eigenen Anteil an der ökonomischen Basis der Familie. Erst unsere Anwendung eines unpassenden Maßstabs und unser falscher Blick auf ihr Familienleben konstruieren mangelnde Gleichberechtigung, Rückständigkeit und Unterdrückung. 

Geschlechtsrollen von Migrantinnen heute

Wie sieht das Geschlechtsrollenverständnis heute aus? Verschiedene Studien (MGEPA NRW/BMFSFJ, S. 61, 300, mit Verweis auf Sinus Sociovision; BoosNünning, S. 5ff., 8ff.; Polat, S. 2ff.) kommen zu dem Schluss, dass bei Idealvorstellungen zu Geschlechtsrollen wie auch beim tatsächlich gelebten Rollenverständnis der Einfluss von „Herkunft“ und Religion in Deutschland getrost vernachlässigt werden kann. Abhängig von Generationszugehörigkeit, Bildungsstand und Schicht- bzw. Milieuzugehörigkeit verläuft das Geschlechtsrollenverständnis weitgehend quer zu Herkunft und Religion.

Zwar werden Auffälligkeiten thematisiert: Auf der einen Seite wird jungen türkeistämmigen Frauen eine größere Bejahung der Virginitätsnorm – Kein Sex vor der Ehe – und eine noch immer größere familiale Orientierung – mit dem Wunsch nach Ehe und Kindern – attestiert, einem kleinen Teil der jungen türkeistämmigen Männer auf der anderen Seite erhöhte Gewaltbereitschaft und das Festhalten an übersteigerten Männlichkeitsnormen. Diese Einstellungen kommen aber in der Gesamtverteilung beim Geschlechtsrollenverständnis nur sehr gering zum Tragen. Bei den jungen Frauen führen die genannten besonderen Einstellungen überwiegend nicht zu einem „konservativeren“ Rollenverständnis, was Arbeitsteilung und Entscheidungskompetenzen in der Kleinfamilie angeht. Sie sind bildungsorientiert und eigensinnig und wollen Familie und Beruf vereinbaren. Bei den jungen Männern wird von Ahmet Toprak zurecht angezweifelt, ob es überhaupt sinnvoll ist, Gewalt und übersteigerte Männlichkeitsnormen direkt auf Herkunft oder Religion zurückzuführen. Er schlägt vor, Ursachen wie Frustration, Perspektivlosigkeit und eigene Ausgrenzungs- und Gewalterfahrungen der jungen Männer als Ursachen zu thematisieren und zu erforschen. (Toprak)

Diese Forschungslage zeichnet also ein ganz anderes Bild als das in der Öffentlichkeit diskutierte: Betrachten wir die Einstellungen und Werthaltungen der heutigen türkeistämmigen Bevölkerung – dann ist alles in Ordnung! Sie haben sich an das westliche industriegesellschaftliche Modell angepasst, fassen Gleichberechtigung als die Möglichkeit eigener Teilnahme an der Erwerbsarbeit auf und nehmen sich vor, die Arbeit entsprechend zu verteilen, wie alle anderen Menschen – jeweils abhängig von Generation, Geschlecht, Milieu/Schicht, Bildungsstand usw. – in Deutschland auch. Wieso hält sich dann so hartnäckig das Bild der kulturell rückständigen, integrationsunfähigen Türkeistämmigen? 

Benachteiligungen aufgrund des Bildungssystems

Der schon erwähnte Aufsatz von Polat bietet eine ideologie- und politikkritische Erklärung dafür an: Er argumentiert, dass bis in die 90er Jahre in Deutschland keine Integrationspolitik, sondern vielmehr eine Rückkehrpolitik verfolgt wurde, mit dem Ergebnis, dass Migranten und Migrantinnen noch immer im Bildungssystem massiv benachteiligt sind und bis heute mit den daraus resultierenden Problemen der sozialen und ökonomischen Schlechterstellung kämpfen. Statt diese Mängel im Bildungssystem einzugestehen und zu beheben, wird von Forschung und Politik das Defizit den Migranten und Migrantinnen zugeschoben. Das Scheitern vieler türkeistämmiger Menschen im deutschen Bildungssystem wird also nicht auf Mängel des Bildungssystems zurückgeführt, sondern auf Mängel der immigrierten Menschen, die als „krisenhaft“, „belastet“ und „hin- und hergerissen zwischen den Kulturen“ bezeichnet werden, was ihre eigentliche Situation der Benachteiligung und Ausgrenzung verdeckt. (Polat, S.2)

Auch zur Erklärung für die in der Duisburger Integrationsbefragung ausgewiesene höhere Quote von Hausfrauen in der türkeistämmigen community können wir eine ähnliche Erklärung aus einer Studie im Auftrag des deutschen Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zu den Wirkungen der deutschen Sozialgesetzgebung auf Personen mit Migrationshintergrund aus dem Jahr 2009 heranziehen. Diese Studie stellt nämlich fest, dass türkeistämmige Frauen, die mit sozialen Geldern unterstützt und in Beschäftigung vermittelt werden sollten, zwar häufig beraten, aber auch häufig sanktioniert und dann letztendlich selten in Beschäftigungsverhältnisse vermittelt wurden; den Grund sehen die Autoren und Autorinnen der Studie darin, dass die Frauen aufgrund von Defiziten der Berater und Beraterinnen nicht in ihren Kompetenzen gefördert werden – sie sehen eine ungleichgewichtige und ungerechte Verschiebung von „Fördern“ zu „Fordern“. (BMAS, S.192f.) Im Anschluss daran können wir annehmen, dass auch die höhere Hausfrauenquote in Duisburg nicht auf Unwilligkeit oder selbstverschuldete Defizite dieser Frauen zurückzuführen ist, sondern auf die Konfrontation mit Vorurteilen, mangelnder und falscher Förderung durch Bildungsund Ausbildungsinstitutionen und andere öffentliche Institutionen und schließlich auf die oben schon benannte Ablehnung durch die Mehrheitsgesellschaft.

Ich komme daher zu meiner zweiten These: Obwohl mittlerweile namhafte Forscher und Forscherinnen teilweise in großangelegten repräsentativen Studien nachweisen, dass die türkeistämmigen Migranten und Migrantinnen integrationswillig, bildungs- und aufstiegsorientiert und in den wesentlichen Aspekten des Geschlechtsrollenverständnisses mit der übrigen deutschen Gesellschaft im Konsens sind, hält sich in der Öffentlichkeit, in Teilen der Forschung und vor allem in der Politik hartnäckig die „defizitorientierte Konfliktthese“. (Polat, S. 2; vgl. auch Boos-Nünning, S. 9f) Auch hier werden Rückständigkeit und Unterdrückungsverhältnisse durch den Diskurs erst konstruiert, zum Nachteil der türkeistämmigen Menschen.

Kommen wir zurück zu der Frage meiner Freundin und zu den Frauen in Duisburg. Wie steht es mit ihnen? , Ich habe dargelegt, dass die Bildungsorientierung von Migrantinnen und ihre Ansichten zur häuslichen Arbeitsteilung im Einklang mit modernen, gängigen Vorstellungen sind. . Die familiale Orientierung einer Vielzahl von Frauen bedeutet daher nicht, dass sie sich in der Ehe einem Mann unterwerfen wollen, sondern, dass sie immer noch den Wunsch haben, Familie und Beruf zu vereinbaren. Aber warum dann die höhere Zustimmung zur Virginitätsnorm? Und warum die Kopftücher? Sind die türkeistämmigen Frauen im Grunde ihres Herzens eben doch rückständig und integrationsunwillig? 

Falsche Zuschreibungen führen zu Diskriminierung

Ich habe aufgezeigt, dass unser falscher Blick und unsere unpassenden Maßstäbe „Rückständigkeit“ und „Unangepasstheit“ sowohl bei der ersten Generation als auch bei den heute in Deutschland lebenden türkeistämmigen Menschen erst konstruieren, obwohl sie sich an die in Deutschland geltenden Wertvorstellungen im Großen und Ganzen angepasst haben. Boos-Nünning und Toprak argumentieren, dass die Migrantinnen und Migranten durch die falschen Zuschreibungen diskriminiert und zu Außenseiterinnen und Außenseitern gemacht werden. (Toprak,Boos-Nünnig, S.9) Und über besondere Potentiale, die sie aus der Erfahrung der Migration zur Gesellschaft beitragen können, höre ich aus Politik und Forschung kaum etwas. Vor diesem Hintergrund müssen wir die jungen türkeistämmigen Frauen betrachten. Schauen wir genau hin und legen wir einen gerechten Maßstab an.

Es gibt Frauen, die sich bis zur Eheschließung sexuell enthalten wollen. Warum schließen wir daraus auf Rückständigkeit? Die Studien und auch meine persönlichen Erfahrungen in Duisburg zeigen, dass dadurch das Rollenverständnis nicht beeinträchtigt ist. Zur sexuellen Freiheit gehört auch für Frauen das Recht, „nein“ zu sagen. Lassen wir sie also selbst entscheiden, und respektieren wir ihre Entscheidung als die Entscheidung moderner, selbstbestimmter Frauen!

Wir sehen, dass einige Frauen Kopftücher tragen. Warum schließen wir daraus auf Rückständigkeit, wenn ein gängiges Rollenverständnis belegt ist? In Deutschland sind die Gründe dafür, ein Kopftuch zu tragen, vielfältig. Die meisten jungen Frauen entscheiden sich dafür autonom und ohne radikale Gesinnung. Zur persönlichen Freiheit gehört auch für Frauen das Recht, sich zu kleiden, wie sie wollen. Lassen wir sie also selbst entscheiden, und respektieren wir ihre Entscheidung als die Entscheidung moderner, selbstbestimmter Frauen!

Die Diplomandin Ayse Tasci hat türkeistämmige Frauen mit Kopftuch fotografiert und will die Gesichtslosigkeit dokumentieren, die entsteht, wenn Frauen mit Kopftuch nicht als handelnde Subjekte gesehen werden. Dass gerade jetzt mehr Kopftücher in Deutschland auftauchen, sollte uns zu denken geben: Sehen wir die jungen Frauen mit den Kopftüchern richtig? Messen wir sie an gerechten Maßstäben? Oder machen sie mit ihren Kopftüchern die Grenze sichtbar, die wir durch falsche Zuschreibungen gegenüber den türkeistämmigen Frauen gezogen haben? Begeben sich junge türkeistämmige Frauen mit und ohne Kopftuch heutzutage mit einem neuen SelbstBewusstsein in das Abseits, in das wir sie durch unsere Betrachtungsweise drängen? 

Ich beantworte nun die Frage meiner Freundin mit meiner dritten These: Liebe Freundin, Studien belegen, es ist alles in Ordnung mit den türkeistämmigen Migrantinnen, auch mit denen in Duisburg. Trotz schlechter Förderung und vielfacher gesellschaftlicher Benachteiligung haben sie sich an die deutschen Wertvorstellungen in Bezug auf die Geschlechtsrollenmodelle angepasst, sie sind bildungshungrig, selbständig und integrationswillig. Trotzdem werden sie durch falsche Zuschreibungen und Vorurteile an den Rand gedrängt. Dort nehmen sie sich heute die Freiheit, wie ihre starken, mutigen Pionier-Vorfahrinnen selbst zu entscheiden, welche Rolle sie in der Gesellschaft spielen möchten. Lassen wir ihnen diese Freiheit, schenken wir ihnen unser Vertrauen, respektieren wir ihre Entscheidungen und unterstützen wir sie dabei, ihre Rolle selbst zu definieren!

Literatur

Am Orde, Sabine, 2010: Sie sind fasziniert von dieser Macht. Ahmet Toprak über jugendliche Migranten, Interview in der taz, online am 15.12.2010, verfügbar unter: http://www.taz.de/1/zukunft/bildung/artikel/1/sie-sind-fasziniert-von-dieser-macht/ [letzter Zugriff:22.05.2011]

Bergs, Melanie, 2011: Junge Türkin widerlegt Kopftuch-Klischees, Presseartikel in derwesten, online am 09.05.2011, verfügbar unter: http://www.derwesten.de/nachrichten/panorama/Junge-Tuerkin-widerlegt KopftuchKlischees-id4626155.html [letzter Zugriff: 22.05.2011]

BMAS (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) (Hrsg.), 2009: Wirkungen des SGB II auf Personen mit Migrationshintergrund, Duisburg, verfügbar unter: http://www.bmas.de/portal/39948/property=pdf/f395_forschungsbericht [letzter Zugriff: 22.05.2011]

Boos-Nünning, Ursula: Junge Migrantinnen in Deutschland, Vortrag, verfügbar unter: http://www.dabev.org/fileadmin/bildmaterial/veranstaltungen/UWE_Ruhr/Young_Migr nt_Women_in_Germany_d.pdf [letzter Zugriff: 22.05.2011]

Edthofer, Julia/Obermann, Judith, 2007: Familienstrukturen und Geschlechterrollen in der Migration. Eine qualitative Analyse von Müttern und Töchtern türkischer Herkunft, in: SWS-Rundschau (47. Jg.) Heft 4 / 2007 : 453–476, Wien, verfügbar unter: http://www.ssoar.info/ssoar/files/2010/1644/sws_2007_4_edthofer-obermann.pdf [letzter Zugriff: 03.05.2011]

MGEPA NRW (Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege, und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen)/BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (Hrsg.), 2010: Abschlussbericht. Rollenverständnisse von Frauen und Männern mit Zuwanderungsgeschichte unter Berücksichtigung intergenerativer und interkultureller Einflüsse, Düsseldorf/Berlin, verfügbar unter: http://www.mgepa.nrw.de/pdf/frauen/ForschungsberichtRollenverstaendnis.pdf [letzter Zugriff: 22.05.2011)

Polat, Ülger, 2008: Die Wandlung von Geschlechterrollen im Spiegel sich verändernder Lebensrealitäten von Muslimen in der Einwanderungsgesellschaft, Stuttgart, verfügbar unter: http://www.akademiers.de/fileadmin/user_upload/download_archive/interreligioese dialog/081114_polat-geschlechterrollen.pdf [letzter Zugriff: 03.05.2011]

Sinus Sociovision, 2008: Zentrale Ergebnisse der Sinus-Studie über Migrantenmilieus in Deutschland, Heidelberg, Ergebniszusammenfassung, online 09.12.2008, verfügbar unter: http://www.sinusinstitut.de/uploads/tx_mpdownloadcenter/MigrantenMilieus_Zentrale_Ergebnisse_09122008.pdf [letzter Zugriff: 22.05.2011]

Stadt Dinslaken (Hrsg.), 2010: Die vergessenen Frauen. Arbeitsmigrantinnen der Ersten Zuwanderergeneration im Ruhrgebiet (Projekt der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010, Ausstellungskatalog), Dinslaken

Stadt Duisburg (Hrsg.), 2009: Ingegration zwischen Distanz und Annäherung. Die Ergebnisse der Ersten Duisburger Integrationsbefragung, Duisburg, verfügbar unter: http://www.duisburg.de/vv/ob_5/medien/20100512_Duisburger_Integrationsbefragung.pdf [letzter Zugriff: 22.05.2011]