Interview-Serie "New Work am Niederrhein"
#wirnutzenchancen | Interview-Serie von und für Unternehmen am Niederrhein
Interview mit Insa Bäumker | Learning Consultant bei der eLearning Manufaktur GmbH
Insa, stelle bitte kurz dich und Bildungsinnovator vor.
Bildungsinnovator ist ein Full-Service-Dienstleister, der Lernen als gesamtheitliches Ökosystem versteht und Lernende sowie Unternehmen unterstützt, mit Veränderung Schritt zu halten. Das gelingt zum einen durch die eigene Lerntechnologie „LXT“ und zum anderen durch eine bedarfsorientierte und lernerzentrierte Beratung und Ausbildung unserer Kunden.
Ich bin Insa, die Product Ownerin eines unserer Produkte, die Lernen zukunftsorientiert angehen, der Learning and Development School. Das ist ein Lernportal, welches sich spezifisch an Professionals in L&D wendet. Das heißt, sowohl an Führungskräfte, die ihre Teams strategisch fit für die Zukunft machen wollen, an Autoren und Trainer, die Lernen mit nachhaltiger Wirkung anstreben, aber auch an jene, die generell Lernen im Unternehmen besser machen wollen. Hier sorge ich dafür, dass die wirklich aktuellen Fragen und Herausforderungen aus dem L&D-Alltag aufgegriffen und bedient werden. Dabei hilft mir zum einen mein fachlicher Hintergrund aus Bildungsplanung, Instructional Design und Wirtschaftspsychologie als auch unser gesamtes Bildungsinnovator-Team, das sich seit Jahrzehnten mit den Bedürfnissen der Lernenden beschäftigt.
New Work ist momentan in aller Munde. Für Frithjof Bergmann, den Begründer des Begriffs, war ein Aspekt von New Work: „Arbeit soll nichts Gezwungenes sein, sondern etwas, was man wirklich, wirklich will.“. Welche Bedeutung hat der Begriff New Work für euch?
Die Aussage kenne ich sehr gut, zuletzt aus der L&D School zum gleichnamigen Modul „New Work“. Im Arbeitsalltag fällt mir immer wieder auf, wie gut jeder Einzelne sich in seinem Themengebiet auskennt, und mir fällt noch mehr auf, wie sich jeder Einzelne in seinen Tätigkeiten und Rollen entwickelt und einbringt. Das macht sich für mich beispielsweise bemerkbar in unserer Umsetzungskraft. Die entfaltet sich, wenn es darum geht, aus einer gesäten Idee die erste Pflanze oder sogar einen Baum zu ziehen. Denn hier trägt jeder genau das dazu bei, was er oder sie am besten kann, und bringt sich dort ein, wo er am besten wirken kann – beim Aufbereiten der Basis (z. B. beim Schaffen einer didaktischen Grundlage), beim Säen selbst (der Aufbereitung der konkreten Inhalte), beim Pflegen und Gießen (also die kontinuierliche Planung und Begleitung des Prozesses) als auch bei der Ernte der Pflanze (also der Auslieferung und Vermarktung des Produktes). Wenn sich hier alle Beteiligten dort einbringen, wo sie es am besten können, wollen oder sich hin entwickeln möchten – dann spreche ich von New Work.
Im Bildungsinnovator-Team legt ihr Wert auf agile Arbeitsweisen. Was bedeutet agiles Arbeiten und wie läuft das bei euch im Unternehmen ab?
Unter agilem Arbeiten kann so viel verstanden werden und jeder Einzelne definiert es für sich anders. In der Praxis erlebe ich es so, dass es für die einen auf einzelne Methoden ankommt, andere darunter konkrete Verhaltensweisen im Arbeitsalltag verstehen.
Für mich bedeutet agiles Arbeiten, einen zwar abgesteckten Rahmen zu haben, sich darin jedoch frei bewegen zu können. Also einen Rahmen in Form von Prinzipien, Visionen und Zielen, jedoch mit der Freiheit, den Weg zu den Zielen zu gestalten. Diese Gestaltungsfreiheit gibt mir Raum, sowohl individueller auf (sich ändernde) Kundenwünsche einzugehen als auch die Methoden und Ressourcen zu wählen, die für mich passend sind. Agilität ist für mich, sich kontinuierlich vor Augen zu führen, wo man gerade steht und wo man hin möchte. Zahlen die geplanten Schritte noch auf den gesteckten Rahmen ein? Wenn ja: gut, dann weiter so. Wenn nein: Auch gut, wir passen zusätzlich ein paar Elemente an. Ein Beispiel dazu: Wenn sich ein Lerner auf seinem Weg zum selbstbestimmten E-Learning-Autor entwickeln möchte durch die L&D School, kann dieser selbst den Weg entscheiden, wie er diesen beschreitet. Sei es durch Lernmodule, Webinare, einzelne Austausche etc. Und gleichzeitig werden das Budget, die Technik, das Experten-Know-how und alle menschlichen Ressourcen dafür von seinem Arbeitgeber bereitgestellt.
Viele Menschen sehen Veränderung als Feind. „Das haben wir aber schon immer so gemacht.“ Was ist der Mehrwert für (euer) Unternehmen, agil zu arbeiten und sich ständig zu verändern?
Kontinuität und ein gesundes Maß an festgelegten Abläufen, Prozessen, Verantwortlichkeiten, regelmäßigen Ist-Soll-Standabfragen sind unabdingbar. Der in meinen Augen wichtige Punkt dabei ist, regelmäßig zu hinterfragen, ob das, was wir machen, noch auf die übergeordneten Ziele und auf die Bedürfnisse des Kunden einzahlen. Wenn nicht, wird hinterfragt, wo eine Stellschraube gedreht werden kann oder wo auch mal ein ganzes Element ausgetauscht werden muss. Meine Formulierung lässt es schon erahnen. Veränderung heißt nicht, dass wir von heute auf morgen einen ganzen Berg versetzen. Es heißt vielmehr, dass unser Berg Stück für Stück erklommen wird oder Tag für Tag der Tunnel gebohrt wird – und nach Bedarf wird die Route angepasst.
Wenn klar ersichtlich ist, welchen Nutzen eine Veränderung hat, also klar ist, für welches gemeinsame Ziel der Berg erklommen wird, dann steigt auch die Bereitschaft, einen steinigen Weg auf sich zu nehmen. Bei uns im Spezifischen würde ich sagen, ist der Mehrwert des agilen Arbeitens, dass jeder das Schuhwerk anziehen kann, mit dem er oder sie am besten zurechtkommt, dass jeder in seinem Tempo laufen kann und dass dennoch alle Kolleginnen und Kollegen miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig mit ihren jeweiligen Expertisen unterstützen können.
Habt ihr Tipps, wie kleine und mittlere Unternehmen Veränderungen anstoßen und ihre Arbeitsweisen zukunftsorientierter gestalten können?
Mein Tipp beginnt vor dem Anstoß: Es sollte keine Veränderung angestoßen werden, wenn nicht klar ist UND nicht klar kommuniziert wurde, wohin sich das Unternehmen entwickeln möchte. Wenn ich es auf die persönliche Entwicklung übertrage: Es ist wunderbar einfach, ein Studienfach nach dem anderen an der Uni zu studieren. Mal das eine Wahlmodul aus der Agrarwirtschaft, mal ein Modul aus der Physik, mal ein Modul aus der Psychologie. Selbst wenn alles spannend ist, selbst wenn alle Themen relevant sind – solange ich mich nicht auf ein übergeordnetes Ziel festlege, werde ich lediglich von einem zum nächsten spannenden Punkt hüpfen, ohne jemals zufrieden eine Sache abzuschließen. Auf der anderen Seite: Wenn ich die Vision habe, Lernen besser zu machen und Menschen in ihrer Entwicklung zu unterstützen, dann würde ich schon ohne externe Vorgaben Module angehen, die in unterschiedlichem Ausmaß auf dieses Themenfeld einzahlen.
Heißt also: Habt die Vision klar und kommuniziert das große Ganze. So wie wir es auch aus dem Zitat von Antoine de Saint-Exupéry kennen: „Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommele nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“
Bildungsinnovator ist eine „Learning & Development“-Plattform. Warum ist es für die zukünftige Arbeitswelt wichtig, Lernen zu transformieren?
Das ist eine super Frage, auf die sich mit der Beschreibung vielerlei Aspekte eingehen lässt. Zwei in meinen Augen wichtige Punkte sind die Geschwindigkeit, in der Informationen entstehen und sich verändern, und die Individualität, die ein jeder Lerner mit sich bringt.
Geschwindigkeit:
Lernen darf nicht mehr als Einmalintervention in Form eines Präsenzseminars gedacht werden. Was heute in einem Seminar gelehrt wird, ist in einem halben Jahr schon nicht mehr vollständig aktuell. Was heute das größte Bedürfnis eines Kunden ist, kann morgen schon wieder Schnee von gestern sein. Die Halbwertszeit von Informationen wird immer kürzer, wodurch wir in Learning & Development angehalten sind, in einer weitaus höheren Geschwindigkeit als früher Informationen so aufzubereiten, dass dann auf sie zugegriffen werden kann, wenn sie gebraucht werden.
Individualität:
Lernen darf nicht mehr in 2-Stunden-E-Learnings am Stück gedacht werden. Wie im vorangegangenen Punkt bereits erwähnt, müssen Informationen dann bereitgestellt werden, wenn sie gerade für den Lerner relevant sind. Ergänzen lässt sich dieser Punkt mit dem Aspekt, dass jeder Lernende auch nur die Informationen angeboten bekommen sollte, die ihn gerade interessiert. Also kein E-Learning, in dem der Lernende gezwungen wird, jede einzelne Seite durchzulesen, bevor er weiterklicken kann. Hier muss vielmehr ein Performance-Support-Gedanke gepflanzt werden, der dem Lerner individuell die Antworten liefert, zu denen er gerade die Frage formuliert hat – und sonst keine.
Wie können besonders kleine und mittelständische Unternehmen eine innovative Lernkultur etablieren?
Eine Kultur zu etablieren dauert seine Zeit. Ein in meinen Augen sehr wichtiger Punkt ist, das vorzuleben, was gelebt werden soll – und das in seiner puren, authentischen Form. Im besten Falle werden Fehler wie normale Tischgespräche behandelt. Also offen angesprochen, draufgeschaut, was der Ist-Stand ist, was der Ursprung ist und wie nun weitergemacht wird. Ganz im Sinne von hinfallen – aufstehen – Krone richten – weitergehen. Nur mit dem Zusatz, dass beim Aufstehen auf die Wurzel geschaut wird, über die gerade gestolpert wurde, und dafür gesorgt wird, dass die Wurzel umgangen oder beiseitegeschafft wird.
Interview mit Oliver Tagisade | Geschäftsführer der KLESYS GmbH
Herr Tagisade, stellen Sie bitte kurz sich und die KLESYS GmbH vor.
Sehr gern! Die KLESYS ist regionaler Marktführer in den Bereichen IT-Full-Service für kleine und mittelgroße Organisationen, Cloud-Computing und IT-Sicherheit. Ich habe die KLESYS 1995 gegründet; wir sind der erste und am längsten zertifizierte Microsoft-Partner im Kreis Kleve. Zeit meines (Arbeits-)Lebens habe ich mich mit der Optimierung von Geschäftsprozessen unter Zuhilfenahme smarter Technologien beschäftigt. Es ist mir dabei nicht einen einzigen Tag langweilig gewesen!
New Work ist momentan in aller Munde. Für Frithjof Bergmann, den Begründer des Begriffs, war ein Aspekt von New Work: „Arbeit soll nichts Gezwungenes sein, sondern etwas, was man wirklich, wirklich will.“ Was bestimmt für Sie maßgeblich den Begriff New Work?
New Work hat in den letzten drei, vier Jahren eine derart große Aufmerksamkeit in Wirtschaft und Gesellschaft erfahren, dass es fast schon zum Modebegriff zu verkommen drohte. Für mich persönlich geht es bei der Verwendung des Terminus New Work nicht nur um durchgestylte Büros, in die man ein skandinavisches Sofa und ein paar Knautschkissen zum schon vor Jahren angeschafften Kicker-Tisch stellt. New Work darf auch nicht auf Homeoffice oder Arbeitszeitautonomie reduziert werden. Es ist mehr als nur „Lohnarbeit im Minirock“, wie Frithjof Bergmann es einmal selbst formuliert hat.
Wenn ich an New Work denke, geht es für mich darum, wie wir die Zusammenarbeit im Unternehmen fundamental anders organisieren. Wie wir damit als Organisation beweglicher, resilienter (noch so ein Modewort!), sinnstiftender und natürlich wettbewerbsfähiger werden. Und wie wir die Arbeit mit dem Privaten versöhnen – hier allerdings auf eine andere Art und Weise, als sich Frithjof Bergmann das in seiner ursprünglichen Sozialvision vorgestellt hat. Seine Ideen von damals und unser kapitalistisches Wirtschaftsmodell standen sich schon ziemlich diametral gegenüber, um das mal diplomatisch auszudrücken. Meiner Überzeugung nach sollten wir uns Bergmann nähern, ohne hinter uns sämtliche Brücken abzubrechen. Ein steiniger Weg, ein langer Weg. Aber ich glaube, es lohnt sich, ihn zu gehen.
Welche Maßnahmen ergreifen Sie und Ihr Team, um sich selbst mit Ihrem Unternehmen zukunftsorientiert aufzustellen?
Jetzt ist der Punkt gekommen, an dem ich anmerken muss, dass ich manchmal gegen eine ab und zu hochkommende Resignation ankämpfen muss. Man sieht den Status quo und die Ziele und weiß, dass noch verdammt viel zu tun ist, wofür man viel zu wenig Zeit hat. Wir als KLESYS haben jedoch einen enormen Vorteil: Als Marktteilnehmer in diesem, unserem technologischen Umfeld sind wir die Speerspitze der Digitalisierung, also ganz vorn dabei. Unsere Mitarbeiter haben den Umgang mit dem Digitalisierungswerkzeugkasten als Beruf erlernt, es sind „Digital Natives“ im besten Sinne. Die wichtigste Maßnahme, mein Unternehmen zukunftsfest aufzustellen, ist, die richtigen Mitarbeiter zu finden und ihnen ausreichend Raum zur Entfaltung zu geben. Veränderung lässt sich tausendmal leichter bewältigen, wenn alle Lust darauf haben. Ich bin sehr stolz auf mein Team und sehe mit Freude, wie motiviert es sich jeden Tag den Herausforderungen stellt.
Mit 40 Jahren Berufserfahrung sind Sie ein echter IT- und Digitalisierungsprofi. Was waren für Sie in den letzten Jahren einschneidende Ereignisse oder Entwicklungen, die die Arbeitswelt von morgen maßgeblich mitbestimmen werden?
In der Vergangenheit waren das zunächst der Mobilfunk und das Internet, dessen Herauswachsen aus den Kinderschuhen ich als junger Selbstständiger live miterlebt habe. Dann die Cloud, deren Anfänge – damals unter dem Begriff „ASP“ – auf die Jahrtausendwende zurückzuführen sind. Und natürlich die Entwicklung von Smartphones und Breitbandmobilfunk. Ohne diese technischen Innovationen, die ihre Marktreife allesamt in den vergangenen 30 Jahren erlangten, wären weder unser gesellschaftliches Miteinander noch unser wirtschaftliches Handeln heute denkbar. Die Entkoppelung der Büroarbeit von Ort und Zeit, um nur ein Beispiel zu nennen, benötigt alle aufgeführten Innovationen; Homeoffice ohne Breitbandinternet und ohne Mobil- bzw. Videotelefonie? No way!
In der Zukunft werden wir Mega-Innovationen durch künstliche Intelligenz sehen, die große Auswirkungen auf die Arbeitswelt haben werden, zum Beispiel im Gesundheitswesen: Apple als weltumspannender Gesundheitskonzern, der mit den Vitaldaten seiner Kunden neuartige Therapien anbieten kann – Stichwort „Big Data“. Oder im Mobilitätssektor: der Pendler, der die täglichen 60 Minuten Fahrtzeit zum Schlafnachholen, zur Privatlektüre oder für die ersten Videokonferenzen nutzt, weil das Auto ihn fährt.
Die Blockchain wird in Kürze erwachsen werden und massiven Einfluss darauf nehmen, wie wir Vereinbarungen miteinander treffen, ob als Digitalwährung oder über „Smart Contracts“. Das sind alles Beispiele für Entwicklungen, deren technische Grundlagen schon heute existieren.
Mit persönlich großem Interesse verfolge ich die Innovationen im Energiesektor. Ich betrachte das Thema Wasserstoff als den heißesten Game Changer in Sachen CO2-Neutralität. Leider steht zu befürchten, dass wir in Deutschland bei dieser Schlüsseltechnologie Ideologie-getrieben gerade die falschen Weichen stellen und uns zu früh zu viel zumuten, Stichwort grüner oder blauer Wasserstoff. Das könnte unserer Wettbewerbsfähigkeit massiven Schaden zufügen. Ich hoffe, dass wir in Europa insgesamt eine technologische Aufholjagd starten, um nicht zum ansonsten bedeutungslosen Absatzgebiet für wahlweise amerikanische oder chinesische Produkte zu verkommen.
Welche Lehren können wir bezüglich der Digitalisierung aus der Coronapandemie ziehen?
Erstens: Digitalisierung hat nichts mit IT zu tun. IT ist lediglich das Werkzeug, das richtig eingesetzt werden will, so wie bei einem Hammer. Ich kann damit einen Nagel in die Wand schlagen – oder mir auf den Finger. Auf den fachgerechten, richtig dosierten und gezielten Einsatz kommt es an.
Hieraus folgt gleich schon das zweite Learning: Wir haben uns in der neuen Situation schneller als gedacht und besser als befürchtet zurechtgefunden. Es ist also nicht alles schlecht in diesem Land. Gleichwohl müssen wir als Gesellschaft noch einen weiten Weg gehen: Die Digitalisierung der öffentlichen Hand, des Bildungswesens, von Teilen der Wirtschaft – da gibt es doch noch großen Aufholbedarf. Das ist mein drittes Learning.
Was in der deutschen Öffentlichkeit gern untergeht, ist, wie andere Länder durch die Pandemie gekommen sind. Da können wir, wenn wir unsere Eitelkeit abzulegen bereit sind, von unseren europäischen Nachbarn viel lernen. Während in Deutschland Behördenmitarbeiter im Homeoffice keinerlei Anbindung an die Telefonanlage ihres Arbeitgebers hatten und haben, geben in Estland ca. 95 Prozent der Bürger ihre Steuererklärung digital in weniger als fünf Minuten ab. Distanzunterricht? In Estland problemlos, weil das Bildungswesen seit 30 Jahren konsequent durchdigitalisiert wurde.
Es ist aus meiner Sicht ein Riesenvorteil, dass wir anhand solcher nationaler Role Models eine Blaupause haben, an der wir uns ausrichten können. Wir sehen, wie man es richtig macht. Nun müssen wir aber ins Handeln kommen und dürfen keine Zeit mehr verlieren!
Inwieweit bergen die derzeitigen Entwicklungen in Sachen New Work und Digitalisierung eine Chance für die Region Niederrhein?
Als Kind habe ich mich oft an dem Begriff „Zollgrenzbezirk“ gerieben, der auf jedem Ortsschild zu lesen war. Nicht nur, dass mit diesem Begriff Grundrechtseinschränkungen verbunden waren – ein Stück weit kam man sich benachteiligt vor, weil man am Rand von irgendwas wohnte.
Heute ist diese Lage ein echter Mehrwert und ein wirtschaftlicher Vorteil: Wir liegen geografisch zwischen zwei wichtigen Wirtschaftszentren, dem Ruhrgebiet und der Region Arnheim-Nimwegen. Die Niederlande sind nach China Deutschlands wichtigster Handelspartner. Die multimodale Logistik findet am Niederrhein mit zwei Autobahnen, einer Schnellbahnlinie und einer wichtigen Schifffahrtsstraße beste Bedingungen vor, die Häfen von Rotterdam und Duisburg liegen in Schlagdistanz. Schon vor Jahrtausenden haben sich die Menschen entlang wichtiger Handelsrouten niedergelassen. Das ist heute nicht anders. Dank der Breitbandförderung des Bundes und der guten Arbeit der zuständigen Stellen in den Kreisen haben wir in nicht allzu ferner Zukunft an jeder niederrheinischen Milchkanne schnelles Internet und damit die wichtigste Voraussetzung zur weiteren Steigerung der Standortattraktivität geschaffen. Vergleichsweise günstiger Wohnraum und eine durch die ländliche Struktur bedingte, hohe Lebensqualität tun ihr Übriges.
Gerade durch Corona ist uns bewusst geworden, dass man doch lieber einen Spaziergang an der Niers entlang unternimmt als einen Sprint vom Balkon zum Kühlschrank und wieder zurück. Kurzum: Ich sehe den Niederrhein als Sehnsuchtsort für „neues Leben“ und „neues Arbeiten“.
Was können kleine und mittlere Unternehmen tun, um die Digitalkompetenz ihrer Fach- und Führungskräfte auf- und auszubauen?
Um es ganz deutlich zu sagen: Wir müssen alle wieder die Schulbank drücken! Viel, viel länger, als wir uns das derzeit vorstellen.
„Schulbank“ nur im übertragenen Sinne; wir brauchen zur nachhaltigen Wissensvermittlung unterschiedlichste Lernformen, aber in Summe muss hier ein massiver Zeit-Invest erfolgen, da muss sich ein jeder aus seiner Komfortzone bewegen. Sehen Sie, wir sind alle zur Schule gegangen. Rechnen Sie mal zusammen, wie viele Stunden Mathematikunterricht Sie in Ihrem Leben hatten. Oder Biologie. Nach der Schule kamen noch drei Jahre Ausbildung oder Uni dazu. Das summiert sich auf Tausende Stunden Unterricht. Und heute finden Sie nicht einmal eine Stunde Zeit pro Woche, um Ihre Digitalkompetenz zu steigern? Wie lange soll das dauern, bis Sie endlich digital fit sind? Ich danke Harald Schirmer von der Continental AG, der mir vor einigen Jahren durch einen Vortrag die Brisanz dieses Themas vor Augen geführt hat.
Die Unternehmen müssen das Thema Digitalkompetenz als vorrangige Führungsaufgabe definieren, sonst ändert sich nichts. Aber auch gesellschaftlich muss die Akzeptanz zum schnelleren Erlernen des Neuen wachsen. Positiv sehe ich die inzwischen vielfältigen Lernangebote, seien es Bücher, Videos, kurze Info-Häppchen, z. B. über Intranet-Plattformen an die Belegschaft herangetragen, digitale Bots, die mittels künstlicher Intelligenz Wissensfragen selbstständig beantworten usw. Auch kleinere Unternehmen können von diesen oft als Abo-Modell verfügbaren Angeboten profitieren. Aber das muss einhergehen mit einem kulturellen Wandel im Unternehmen. „Da! Lies mal!“ oder achtstündige Frontalbeschallung funktionieren nicht.
Viele Menschen sehen Veränderung als Feind. „Das haben wir aber schon immer so gemacht.“ Was motiviert Sie dazu, immer wieder Neues zu wagen und bei sich im Unternehmen Veränderungen anzustoßen?
Das ist in meinem Fall eine Frage der Persönlichkeit. Ich war Neuem gegenüber schon immer aufgeschlossen. Das geht bisweilen so weit, dass ich Bewährtes links liegenlasse, nur, um eine neue Erfahrung zu machen. Im Alltag äußert sich diese Charaktereigenschaft beispielsweise dadurch, dass ich nie daran interessiert war, öfter als ein, zwei Mal am selben Ort Urlaub zu machen, oder dass ich in der Eisdiele eher neue Kreationen probiere als meine Lieblingssorte zu bestellen.
Viele Menschen verunsichert das Neue, weil sie nicht wissen, was sie erwartet. Wenn man in Veränderungsprojekten gegen diese Widerstände konfrontativ und autoritär ankämpft, kommt es oft zu Verweigerungshandlungen. Das verbraucht enorm viel Kraft, zerstört Vertrauen und führt nicht selten zum unüberwindbaren Zerwürfnis.
Daher habe ich mich schon früh mit Veränderungsmanagement beschäftigt – die meiste Zeit davon jedoch ohne Masterplan. Erst seit ein paar Jahren gehe ich mit einer strukturierten Vorgehensweise in Veränderungsprojekte. Hier hat uns Microsoft sehr geholfen, indem es uns an die aus Amerika stammende PROSCI-Methode heranführte.
Egal, mit welchem Veränderungsmodell man sympathisiert: In den meisten, auch schon in denen der Pioniere Lewin und Kotter, nimmt das Warum einen wichtigen Platz ein. Mitarbeiter wollen den Wandel, wenn überhaupt, niemals in ein und derselben Geschwindigkeit. Um Veränderungsprozesse konstruktiv auszugestalten, braucht es jedoch ein einigermaßen einheitliches Tempo aller Mitwirkenden. Wir kennen das aus der Redewendung, dass alle an einem Strang ziehen. Geduldig sein und den Mitarbeitern erklären, welche Verbesserungen ihren eigenen Arbeitsplatz betreffend mit dem Veränderungsprozess einhergehen – so schafft man optimale Voraussetzungen für ein gutes Gelingen.
Das ist für mich dann auch jedes Mal eine Riesenmotivation, beim nächsten Projekt wieder alles für den Erfolg zu geben, wenn ich sehe, wie gut das Neue angenommen wird und wie viele Mitarbeiter das Neue in kürzester Zeit als Selbstverständlichkeit ansehen, es adaptiert haben.
Wie muss sich ein Unternehmen heute und zukünftig aufstellen, damit es sich nachhaltig auf dem Arbeitsmarkt bewähren kann?
Anpassungsfähigkeit an neue, sich schnell verändernde Rahmenbedingungen, das bedingt ein gerüttelt Maß an Offenheit gegenüber Veränderungen; digitale Wettbewerbsfähigkeit stärken; Bewährtes hinterfragen; neue Wege gehen, angefangen beim Recruiting über die oben angesprochene Fortbildung bis hin zu Konzepten zur Flexibilisierung der Arbeit, die heute eine Selbstverständlichkeit sind; und immer wieder „Trial and Error“, wie Frithjof Bergmann es schon konstatierte.
Interview mit Kai Lehmkühler | Mitgründer und Geschäftsführer der Rheinschafe GmbH
Stellen Sie bitte kurz sich und die Rheinschafe GmbH vor.
Die Rheinschafe GmbH ist eine Agentur für Marketing und Kommunikation mit Schwerpunkt auf Lösungen im digitalen Raum. Wir sind spezialisiert auf die Umsetzung von komplexen Websites mit dem Enterprise-Content-Management-System TYPO3 CMS und auf moderne Web-Applikationen. Dabei bieten wir jeweils das komplette Leistungsspektrum an: strategische Beratung, Konzeption, Kreation, technische Umsetzung und natürlich auch alles rund um den laufenden Betrieb der Systeme. Die Rheinschafe GmbH wurde 2009 gegründet und Anfang 2021 wurde der Firmensitz in unseren neuen Coworking-Space „KS36“ verlegt.
Ich bin Kai, einer der Gründer und Geschäftsführer der Rheinschafe GmbH. Die digitale Welt fasziniert mich schon seit meiner Kindheit, und das führte auch schon sehr früh zur ersten Unternehmensgründung, noch vor meinem Informatikstudium.
New Work ist momentan in aller Munde. Für Frithjof Bergmann, den Begründer des Begriffs, war ein Aspekt von New Work: „Arbeit soll nichts Gezwungenes sein, sondern etwas, was man wirklich, wirklich will.“ Welche Bedeutung hat der Begriff New Work für Sie?
Das Konzept New Work bedeutet für mich, die neuen Chancen und Möglichkeiten aus zeitlicher, räumlicher und organisatorischer Perspektive zu nutzen und ein Unternehmen zukunftsfähig zu machen. Moderne Technologien und die Digitalisierung bieten dabei die Grundlage für Veränderungen auf der einen Seite und auf der anderen Seite hat sich die klassische Arbeitswelt stark verändert. Die heutige Wissensgesellschaft hat die Anforderungen an Arbeitsstrukturen auf den Kopf gestellt.
Für mich persönlich geht es bei New Work um viel mehr als dezentrales Arbeiten, Homeoffice, flexible Arbeitszeit, Work-Life-Balance und das coole Loft-Büro mit Obstkorb, Kicker und gutem Kaffee. Wenn ich an New Work denke, geht es für mich um die Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten und wie die Organisation aufgebaut ist. Das ist für mich die Grundlage für viele weitere Themen: Motivation, schnelle Entscheidungen, Respekt, Vertrauen, Kreativität, mehr Freiheit, Selbstbestimmtheit usw.
Ein Ziel ist sicherlich die Zufriedenheit unter den Mitarbeitern, was natürlich gut zu dem Aspekt von Frithjof Bergmann passt.
Die Herde – ein wilder Haufen, so nennen Sie das Rheinschafe-Team und legen viel Wert auf agile Arbeitsweisen. Was bedeutet agiles Arbeiten und wie läuft das bei Ihnen im Unternehmen ab?
Agiles Arbeiten bedeutet, nach Anpassungsfähigkeit zu streben. So sind wir auch aktuell wieder dabei, unsere Arbeitsweise und unsere Organisationsstruktur anzupassen. Dabei erarbeiten wir diesen Veränderungsprozess ebenfalls agil und binden unser Team – unsere Herde – entsprechend ein. Ein grobes Ziel und einige Eckpfeiler geben wir durch die Geschäftsführung – Herdenleitung – vor, doch alles andere wird gemeinsam entwickelt. Bei den ersten Schritten bemerken wir schon wieder eine bemerkenswerte Dynamik und Motivation in den einzelnen Gruppen. Auch wenn der Prozess sicherlich noch etwas dauern wird, sind wir sehr gespannt auf das Ergebnis.
Unser Büro – die Weide – in unserem neuen Coworking-Space war und ist natürlich auch ein wichtiger Schritt in Richtung agiles Arbeiten. Eine attraktive Arbeitsumgebung mit guter Erreichbarkeit, lichtdurchfluteten Räumen, frischer Luft, Kommunikationsbereichen, Rückzugsorten, höhenverstellbaren Schreibtischen, modernster Technik usw. sorgt natürlich auch für eine hohe Zufriedenheit bei den Mitarbeitern und bildet auch die Grundlage für eine professionelle Arbeit.
Viele Menschen sehen Veränderung als Feind. „Das haben wir aber schon immer so gemacht.“ Die Rheinschafe erleben Coworking und Raum für kreative Entfaltung und haben die neue Kreativweide in den ehemaligen HILD-Werkstätten „KS36“ bezogen. Was ist der Mehrwert für Ihr Unternehmen, agil zu arbeiten und sich ständig zu verändern?
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und Veränderungen werden gemieden, doch bei Unternehmen ist Stillstand gleich Rückschritt. Wir leben und arbeiten in einer extrem schnelllebigen Zeit, daher müssen wir uns als Unternehmen ständig verändern und anpassen. Wir können uns also nicht erlauben, nicht agil zu arbeiten.
Mehrwerte gibt es trotzdem: insbesondere die Attraktivität für neue und bestehende Mitarbeiter, schnellere Entscheidungen, hohe Motivation, höhere Qualität der Arbeit usw.
Haben Sie Tipps, wie kleine und mittlere Unternehmen Veränderungen anstoßen und ihre Führungskultur zukunftsorientierter gestalten können?
Ein entscheidender Faktor ist die Größe des Unternehmens und wie viel Erfahrung die Organisation mit agilen Prinzipien, Methoden und Praktiken hat.
Grundsätzlich ist professionelle Unterstützung durch einen Agile-Coach ratsam. Ergänzend gibt es mittlerweile auch zahlreiche Podcasts, die sich auf New Work spezialisiert haben und einen guten Eindruck der Tragweite vermitteln.
Die Rheinschafe sind aktiv in der Nachwuchsförderung. Warum ist es für die zukünftige Arbeitswelt wichtig, dass gemischte Teams zusammenarbeiten?
In unserer Branche sind wir auf die aktive Nachwuchsförderung angewiesen. Dabei sind effiziente Maßnahmen erforderlich, bei denen effektive Lernfortschritte erzielt werden können.
Durch die gemischten Teams kann die Kommunikation erheblich vereinfacht werden, was gerade bei kurzen Änderungszyklen ein entscheidender Vorteil ist. Zudem wächst auch das Verständnis gegenüber anderen Teammitgliedern und der Know-how-Transfer wird gefördert.