Duisburger Organisationen von zugewanderten Menschen: Alevitische Gemeinde Duisburg

Die Alevitische Gemeinde Duisburg e.V. ist eine der ältesten alevitischen Gemeinden in Deutschland und zugleich eine der größten. Sie versteht sich in erster Linie als Glaubensgemeinschaft, doch die weltlichen Bezüge, das praktische Leben spielen in Tradition und Gegenwart dieser Glaubensrichtung eine wichtige Rolle. Der alevitsche Glaube ist eine besondere Ausprägung des Islams. Er beruht auf einer eigenen Auslegung des Korans, die sich vom orthodoxen Islam wesentlich unterscheidet.

Gegründet wurde die AGD 1988 von ehemaligen „Gastarbeitern“ und politischen Flüchtlingen, die nach dem Militärputsch von 1980 aus der Türkei kamen. Sie einte der Wunsch, ihren Glauben offen zu leben und die alevitischen Werte an die nächste Generation weiter zu geben. In Rheinhausen wurde der Wunsch Wirklichkeit. Zunächst auf der  Bertastraße, dann – acht Jahre später -, in 1996, erwarb die Gemeinde die alte „Menage“ – die Kantine – des Krupp-Werkes im Stadtteil. Ein Wahrzeichen der städtischen Industriekultur konnte damit erhalten und fortan von der jungen alevitischen Gemeinde mit Leben gefüllt werden. Viele der Mitglieder waren damals bei Krupp beschäftigt. Der Erwerb des ehemaligen Werksgebäudes als neues Zuhause des Vereins symbolisierte eine sichtbare Kontinuität im Leben der eingewanderten Menschen. Die Beheimatung im einst fremden Land war vollends im Gange.

Schätzungsweise 20.000 Aleviten leben in Duisburg. Genaue Zahlen gibt es nicht, da die Zugehörigkeit zum islamischen Glauben nicht nach Konfessionen differenziert wird, weder in der Türkei, noch in Deutschland. Und viele Aleviten mögen ihren Glauben gar nicht preisgeben. Als religiöse Minderheit waren sie stets Diskriminierungen und Diffamierungen ausgesetzt, Unterdrückung und Verfolgung ist als geschichtliche Erfahrung im kollektiven Bewusstsein der Aleviten tief verankert.

Das Alevitentum – eine eigenständige Glaubenrichtung im Islam
Seine Wurzeln hat der alevitische Glaube im Islam, der Koran und der Prophet Mohammed sind den Aleviten heilig. Als eigenständige Glaubensrichtung hat er sich im Zuge der Auseinandersetzungen um die Nachfolge des Propheten entwickelt. Nach alevitischer Auffassung war Ali, der Schwiegersohn Mohammeds, der rechtmäßige Nachfolger. Die Verhinderung dieser Nachfolge war die „Geburtsstunde“ der Aleviten – der Nachfahren und Anhänger Alis. Mit der Zeit hat sich eine eigene Tradition entwickelt. Der alevitische Islam unterscheidet sich dadurch grundlegend vom orthodoxen und auch vom schiitischen Islam. Aleviten haben eigene Gebetshäuser (Cemhäuser),  sie fasten im Muharrem (Alevitische Fastenzeit), der Genuss von Alkohol ist möglich, bei religiösen Zeremonien sind Frauen und Männer nicht getrennt und alevitische Frauen tragen kein Kopftuch. Das sind die augenfälligsten Unterschiede, doch die wesentlichen liegen in den Glaubensinhalten selbst und in den eigenständigen Ritualen. Nicht das Festhalten an den Buchstaben alter Überlieferungen, sondern die kritische Auseinandersetzung mit ihnen und ihre Bedeutung für das gegenwärtige Leben weisen den Aleviten den Weg.  Mehr noch als das Befolgen religiöser Rituale und Gebote, ist für die Anhänger dieses Glaubens Aufrichtigkeit und Mitgefühl gegenüber anderen erstrebenswert.

Die Alevitische Gemeinde Duisburg zählt heute 480 Familien als Mitglieder, das sind rund 1500 junge und alte Menschen – und unter ihnen 80 Studentinnen und Studenten. Fatma Yaşar und Zeki Çakır sind seit 2013 die beiden Vorsitzenden des Duisburger Vereins. Die Satzung wurde entsprechend geändert, um eine Doppelspitze einzuführen. Fatma Yaşar, Mutter von zwei inzwischen erwachsenen Kindern, kam 1990 nach dem Abitur nach Deutschland. Eine Zeit lang arbeitete sie als Verkäuferin in einer Bäckerei, später betrieb sie ihre eigene. Heute widmet sie ihre Zeit dem ehrenamtlichen Engagement in der AGD. Als eine der Vorsitzenden ist sie für die äußeren Angelegenheiten des Vereins verantwortlich, Zeki Çakır kümmert sich um die inneren. „In den letzten Jahren konnten wir mehr junge Familien als Mitglieder gewinnen“, sagt Fatma Yaşar. „Sie möchten ihren Kindern kulturelle Werte vermitteln und ihnen Orientierung in der Gesellschaft geben“. Glaube, Kultur und das Soziale sind im Verständnis der Aleviten eng miteinander verwoben.

Gleichheit und Gerechtigkeit werden gelebt
Gleichheit und Gerechtigkeit werden nicht nur gepredigt, sondern auch gelebt. Fatma Yaşar: „Wenn wir in unseren Zeremonien über Gerechtigkeit und das Teilen sprechen, dann ist es auch unsere Pflicht, uns um unsere Nachbarn zu kümmern, wenn sie Hilfe benötigen. Was für einen Sinn hat es sonst, am Cem teilzunehmen?“. „Cem“ heißt die Gebetszeremonie im Alevitentum, die im Cemevi, dem Cemhaus, stattfindet.

Das Cemhaus im Alevitischen Zentrum ist mit Teppichen ausgelegt und mit Sitzkissen. Ein übergroßes Bild des als heilig verehrten Ali ist an einer Wand angebracht, alevitische Symbole zieren die Fenster. Nicht freitags, wie bei den sunnitischen Muslimen üblich, wird hier gebetet, sondern jeden Donnerstag. Unter der Leitung des Geistlichen der Gemeinde, dem „Dede“ Cemalettin Eken, wird der Cem abgehalten, ein religiöses Ritual mit Gebeten, Rezitationen, Musik und dem „Semah-Tanz“. Gibt es Streitigkeiten unter den Gemeindemitgliedern, können die Beteiligten es vor der Gemeinde vortragen. Der „Dede“ versucht zu schlichten und bittet die Personen sich vor Beginn der Gebetszeremonie zu versöhnen.

Größere Cem-Zeremonien, z. B. anlässlich des „Hızır“ – Fastens oder der zwölftägigen Trauer- und Fastenzeit „Muharrem“ finden im großen Veranstaltungssaal statt, der zu den übrigen Zeiten vermietet ist. Zum Zentrumsgebäude gehören außerdem ein Lokal, eine Teestube, ein Jugendtreff, mehrere Seminarräume und ein Arbeitsraum für den Vereinsvorstand.

„Başkan“ (Vorsitzende) – so wird Fatma Yaşar respektvoll meist angesprochen, vor allem von den männlichen Mitgliedern. Wann immer sie selbst von einer anderen Person spricht, fügt sie dem jeweiligen Namen noch „Can“ hinzu. Gleich, ob es Glaubensschwestern oder –brüder sind, Sunniten oder Flüchtlinge, die in der Nähe des alevitischen Zentrums leben. „Can“ – ein spiritueller Begriff, der kaum ins Deutsche zu übertragen ist. Leben, Lebenskraft Herz oder Seele – all das drückt dieses kleine und doch so große Wort aus.  Der Bildungsbeauftragte der Gemeinde, Bülent Korkmaz, übersetzt es mit „reine Seele“. Auf seiner Internetseite https://buelentkorkmaz.wordpress.com/deutsch-alevitentum/ (Öffnet in einem neuen Tab) erläutert er die Glaubensprinzipien des Alevitentums – auch in deutscher Sprache.

Spiritualität und weltliche Angelegenheiten
Neben Spiritualität und der Vermittlung von alevitischen Werten und Traditionen gibt es viel Raum in der Gemeinde für weltliche Angelegenheiten. Bildung steht dabei an erster Stelle. Je nach Bedarf bietet der Verein Kurse, Seminare und Veranstaltungen an, die auch von Nichtmitgliedern besucht werden können. Das Spektrum reicht von Sprach- und Nachhilfekursen, PC- und Nähkursen, Saz-, Chor- und Theaterkursen zu Rhetorik- oder Konfliktmanagementseminaren. Öffentliche Veranstaltungen beschäftigen sich mit aktuellen sozialen und politischen Themen.Vor den letzten Kommunalwahlen lud die Gemeinde die Duisburger Kandidaten der demokratischen Parteien zu einer Podiumsdiskussion ein. Gefeiert wird traditionell der internationale Frauentag und der 1. Mai, an dem auch Duisburgs Oberbürgermeister die Gemeinde besucht.

Jeden Sonntag treffen sich die Jugendlichen im Vereinshaus, in dem für sie ein eigener Raum zur Verfügung steht. Alle zwei Wochen finden unter der Leitung des Diplom Sozialpädagogen Bülent Korkmaz Seminare zu aktuellen Anliegen oder Problemen der Jugendlichen statt, beispielsweise solchen, die in der Schule auftauchen. 35 bis 40 Jugendliche im Alter von 14 bis 25 Jahren nehmen an den Aktivitäten teil. Der Pädagoge Korkmaz, der als Beratungslehrer an einer öffentlichen Schule in Duisburg arbeitet, ist seit fünf Jahren für die Bildungsarbeit der Alevitischen Gemeinde verantwortlich. Zu seinen Aufgaben gehört die Vermittlung der Glaubensinhalte, der Geschichte und der Literatur der alevitischen Tradition. Das regelmäßige Bildungsprogramm umfasst auch Themen wie Demokratieerziehung, Mündigkeit, gesellschaftliche Partizipation, Kommunikationsfähigkeit, Kooperation und das Leben in Deutschland. Sie werden intensiv behandelt.

“Die Bewohner von Rıza Şehri” – Ein Kinderbuch
Um Kindern die alevitische Lehre nahezubringen und sie mit den Regeln der Gemeinschaft vertraut zu machen, hat Bülent Korkmaz ein Buch geschrieben und es gemeinsam mit der Alevitischen Gemeinde im Selbstverlag veröffentlicht. „Die Bewohner von Rıza Şehri“ heißt das Buch. Es ist die Geschichte des jungen Mannes Sofu, der zu einer Reise aufbricht, um die Welt zu erkunden und ein besseres, gerechteres Leben zu finden, als er es bis dahin kennt. Er findet dieses Leben in der Stadt Riza, in der eine alevitische Gemeinschaft nach ihren Regeln lebt. Über den Schluss der Geschichte sei so viel verraten: Aus Unbedachtheit verstößt Sofu gegen ein ethisches Gesetz der Gemeinde und kann daher weder das Mädchen heiraten, in das er sich verliebt hat und die ihn jetzt ablehnt, noch kann er in der Stadt bleiben. Ein trauriger Schluss für eine Kindergeschichte, doch ein Leben nach ethischen Grundsätzen zählt viel im Alevitentum – davon zeugt diese Geschichte. Aber vielleicht gibt es ja bald eine Fortsetzung, die von Vergebung und Versöhnung erzählt…
Trotz tristem Ende -  „das Interesse an dem Buch ist groß“, sagt sein Autor. Und es wird in Kürze sogar in der Türkei erscheinen, ein Verlag hat sich gefunden.

Ethische Werte: Leben in Eintracht und Toleranz
Auch im Alltag der Alevitischen Gemeinde werden ethische Werte groß geschrieben. Im Vereinslokal hängt ein Bild des islamischen Mystikers Hacı Bektaş Veli, dessen Lehre als die Grundlage für Erziehung und Bildung und die Beziehungen unter den Menschen gilt.  Ein Spruch des Lehrmeisters befindet sich direkt unter seinem Bild:  „Eline, diline, beline sahip ol.“ Beherrsche deine Hände, deine Zunge und deine Lende. Eine Aufforderung, sein Ego zu beherrschen, um den Mitmenschen nicht zu schaden und in Eintracht mit ihnen zu leben. Denn nach alevitischem Glauben wohnt Gott im Herzen eines jeden Menschen.

Das Gebot der Achtung und des Respekts bezieht sich dabei auf alle Lebewesen, es umfasst Tiere, Pflanzen und die Natur als Ganzes. So ist es nur konsequent und im Sinne des Glaubens, dass sich der Verein auch im Naturschutz engagiert. Die Aktivitäten auf diesem Gebiet organisiert und bündelt der Generalsekretär des Vereins, Muhammet Ali Yaşar, der Ehemann der Vorsitzenden. Der Meister für Kreislauf- und Abfallwirtschaft hat als Abfallberater bei den Wirtschaftsbetrieben der Stadt Duisburg zehn Jahre türkischsprachige Duisburgerinnen und Duisburger zum Thema Mülltrennung und Müllvermeidung beraten. Sein Wissen kommt dem Verein heute sehr zugute. Die Kosten der Abfallentsorgung konnten drastisch reduziert werden. Bei einer Organisation, die mehrmals im Jahr Großveranstaltungen durchführt, macht sich das durchaus bemerkbar.

Gemeinde engagiert sich für Umwelt und Nachhaltigkeit
Einmal im Jahr findet um das Gemeindezentrum herum eine Pflanz- und Umweltaktion statt, die Gemeinde nimmt regelmäßig an den Duisburger Umweltwochen teil. M. Ali Yaşar engagiert sich auch in der Umweltorganisation Yeşil Çember, die 2006 unter dem Dach des BUND (Bund für Naturschutz Deutschland) gegründet wurde und ist ihr offizieller Repräsentant in NRW.

Gemeinsam mit Yeşil Çember nimmt die Gemeinde jährlich auch an den Deutschen Umweltaktionstagen teil. Zurzeit läuft die Mitmach-Aktion der NABU NRW ,,Zeit der Schmetterlinge“, an der sich die AGD ebenfalls beteiligt. Ziel ist es, auf den dramatischen Artenschwund der heimischen Insektenfauna aufmerksam zu machen. Neben all diesen Aktionen schreibt M. Ali Yaşar seit sieben Jahren in einem eigenen türkischsprachigen Internetblog zu Themen aus Umwelt und Nachhaltigkeit. Für ihre Arbeit im Bereich Nachhaltigkeit und Bildung für nachhaltige Entwicklung wurde die Alevitische Gemeinde 2016 von der RCE-RUHR / UN University ausgezeichnet.

Die AGD pflegt zahlreiche Kooperationen zu Duisburger Akteuren, sie ist Mitglied im Jugendring und seit 2017 im Paritätischen Wohlfahrtsverband. Sie nimmt an interreligiösen Dialogtischen teil und bringt sich aktiv in die Stadtgesellschaft ein.

Im 30. Jahr ihres Bestehens hat sich die Gemeinde für die Zukunft noch einiges vorgenommen. Sie möchte das Grundstück vor dem Vereinslokal erwerben, um einen Kinderspielplatz zu errichten. Außerdem laufen die Vorbereitungen für eine Baumaßnahme, mit der im 1. Geschoss des Gemeindezentrums ein großes Cemevi und flexible Veranstaltungsräume entstehen sollen. Ein Bereich soll nach dem Modell „Selbst Betreutes Wohnen“ einer Gruppe von älteren Menschen als Wohnkomplex dienen.

Fotos(c): Alevitische Gemeinde Duisburg

http://www.alevi-du.com/de (Öffnet in einem neuen Tab)
https://www.youtube.com/watch?v=e5m2OWd-tWo (Öffnet in einem neuen Tab)

Aynur Koc
17. April 2018

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