Augen auf beim Stolpern!

Stolpersteine sind allgegenwärtig und doch nicht immer im Bewusstsein. Dabei ist es wichtig, an den kleinen Platten im Boden mal innezuhalten und sich mit den Einzelschicksalen auseinanderzusetzen.

Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee die Inhaftierten des Konzentrationslagers Auschwitz. Sie hatten den Nazi-Terror überlebt. Doch etwa anderthalb Millionen andere Menschen wurden dort von den Nationalsozialisten ermordet, unter ihnen mindestens 460 Duisburger Juden. Der Jahrestag der Befreiung ist seit 1996 offiziell der deutsche Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Seit nunmehr 20 Jahren ist er sogar der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts.

Im April 2024 wurde am Flachsmarkt ein Stolperstein für Otto Kühlen neben dem für seinen Bruder Willi verlegt. Willi wurde wegen homosexueller Kontakte verfolgt, gilt als Wehrmachtsvermisster. Otto wurde wegen Fahnenflucht hingerichtet

„Dieses Verbrechen an der Menschheit darf einfach nie in Vergessenheit geraten“, betont Lars Szalek. Er ist Bildungsreferent beim Jugendring Duisburg und als solcher auch für die Organisation und Verwaltung der Stolpersteine in unserer Stadt zuständig. Seit 1992 sollen uns Stolpersteine immer wieder an die Opfer des NS-Regimes erinnern – an Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuelle, Deserteure, Andersdenkende und Sinti und Roma. In Duisburg wurde 2003 der erste Stolperstein für Paula Kaufmann verlegt.

Ein Jahr nach der Verlegung des Stolpersteins von Otto Kühlen hat er schon ziemlich Patina angesetzt. "Mit Seife und warmem Wasser kriegt man die aber wieder gut sauber", sagt Lars Szalek

„Wir haben in Duisburg etwa 320 Stolpersteine verlegt“, weiß Lars Szalek. „Im vergangenen Jahr haben wir mehr verlegt als in den Jahren zuvor.“ Woran das liegt? „Antisemitismus nimmt leider wieder zu. Ich glaube auch, dass Stolpersteine für manche Menschen eine Art Protest gegen die aktuelle politische Strömung sind.“ 

Wer in Gedenken an ein NS-Opfer einen der markanten Betonwürfel (Kantenlänge 10 cm) mit der goldglänzenden Messingplatte im Boden sehen möchte, muss Recherchearbeit leisten. Szalek erklärt: „Jeder Stolperstein hat einen oder mehrere Paten, oft sind es ganze Schulklassen. Einige kommen aus dem Ausland – etwa aus den USA, Israel oder Kanada. Sie arbeiten ihre Familiengeschichte auf.“ Gemeinsam mit dem Zentrum für Erinnerungskultur (ZfE) (Öffnet in einem neuen Tab) und dem Stadtarchiv Duisburg recherchieren die Paten zur Geschichte der jeweiligen Person. „Diese Vorarbeit kommt manche Paten einem Lebenswerk gleich“, sagt Lars Szalek. 

Der Austausch mit den Nachfahren ist von großer Bedeutung betont Robin Richterich vom ZfE: „Wir können Details zu den Verfolgungsumständen mitteilen und die Angehörigen berichten von persönlichen Erinnerungen, die über die dominierende Opfererzählung hinausgehen. Häufig erhalten wir auch beeindruckende Fotos und Briefe von ehemaligen Duisburgern." 

In seinem Büro an der Claubergstraße in der Innenstadt hat Lars Szalek nachbestellte Stolpersteine, die demnächst verschwundene Steine ersetzen werden

Den finalen Text stimmt Szalek schließlich mit dem Büro des Stolperstein-Erfinders, des Künstlers Gunter Demnig (77), ab. Ein Steinmetz meißelt die Inschrift dann in den Würfel. Von der Idee zur Verlegung vergeht jedoch Zeit. „Mindestens ein halbes Jahr dauert es schon, bis ein Stolperstein von den Wirtschaftsbetrieben verlegt wird“, erklärt Lars Szalek.

Dafür bleiben die Steine dauerhaft im Boden, vor den früheren Wohn- oder Wirkhäusern der Personen, derer gedacht wird. Ein gewisser Verlust ist leider unvermeidlich – sei es durch Baustellen oder durch Diebstahl. „Dabei haben die Steine keinen besonderen materiellen Wert“, merkt der Bildungsreferent an. In seinem Büro bewahrt er einige neu bestellte Stolpersteine auf, die bald wieder eingesetzt werden sollen.

Am besten betreten wir die Stolpersteine nicht nur mit Füßen sondern mit Augen und Verstand: Jeder Stolperstein hat eine erinnerungswürdige, leider traurige Geschichte zu erzählen

Inzwischen kann sich Lars Szalek die Einzelschicksale hinter den Stolpersteinen nicht mehr alle durchlesen – aus emotionalen Gründen. „Das sind jedes Mal ganz furchtbare Geschichten. Die gehen mir zu nahe.“ Dass uns die im Boden eingelassenen Kunstwerke aber weiterhin mit den Augen zum Stolpern bringen, findet Szalek immens wichtig. „Dadurch, dass sie in unserem Alltag integriert sind, ist das Gedenken immer präsent und man setzt sich mit der Vergangenheit auseinander.“

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